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Inhaltsverzeichnis:

  1. 21.01.2024
    Offener Brief der Initiative ZEITENWENDE MARBURG an Bundeskanzler Olaf Scholz zur Unterstützung der Ukraine
     
  2. 24.11.2023
    Erklärung der Initiative ZEITENWENDE MARBURG zur Eskalation im Nahen Osten
     
  3. 07.11.2023
    Hubert Kleinert
    Ein Versuch, mir und anderen den Nahostkonflikt zu erklären 
     
  4. 18.04.2023
    Hubert Kleinert
    Bedingungen für einen Frieden in der Ukraine und die Geschichte kriegerischer Konflikte im 20. Jahrhundert
     
  5. 24.02.2023
    OP-Talk zum Jahrestag des Kriegsbeginns gegen die Ukraine  (Online-Stream), s.u. ad 5.
     
  6. 28.10.2022
    Hubert Kleinert
    Überlegungen zur Geschichte der deutschen Ostpolitik seit den 1960er Jahren 
     
  7. 15.08.2022
    Nachruf auf Uli Hogh-Janovsky
    von Hubert Kleinert (Sprecher der Initiative)
     
  8. 28.07.2022
    Hubert Kleinert
    Der Ukrainekrieg, Russland und die NATO
     
  9. 20.06.2022
    Briefwechsel zwischen Herrn Hubert Kleinert (Sprecher der Initiative) und dem Oberbürgermeister 
    der Stadt Marburg Herrn Thomas Spies anlässlich der Vortragsveranstaltung mit Gabriele Krone-Schmalz 
    am 4. Juli 2022 in Marburg

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21.01.2024
Offener Brief der Initiative ZEITENWENDE MARBURG an Bundeskanzler Olaf Scholz zur Unterstützung der Ukraine

Initiative ZEITENWENDE MARBURG

Prof. Dr. Hubert Kleinert | Steinacker 14 | 35043 Marburg

Marburg, d. 21.1.2024

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Olaf Scholz,

die Bedrohung, die die ukrainische Bevölkerung und ihre Souveränität spätestens seit dem verbrecherischen Angriff Russlands am 24.2.2022 erfahren, betrifft nicht nur die Ukraine, sondern auch Deutschland und Europa. Wir, die Initiative Zeitenwende Marburg, befürchten eine große Gefahr für die Demokratien in Europa.

Die Ukraine befindet sich in ihrem zweiten Kriegswinter. Wieder drohen Angriffe auf die zivile Infrastruktur mit den entsprechenden Konsequenzen für die Bevölkerung wie Stromausfall und Lebensmittelengpässen, von Bombenangriffen mit „kollateralen“ Schäden ganz zu Schweigen. Die Ukraine ist akut bedroht, während Russland sich auch mit Waffen aus autokratischen Staaten wie dem Iran und Nordkorea aufrüstet und zudem durch viel mehr „Manpower“ in der strategischen Überlegenheit ist. Die Gefahr eines russischen Sieges ist real.

Die Ukraine ist mehr denn je auf westliche Waffenlieferungen angewiesen. Die ukrainische Gegenoffensive steckt auch aufgrund der zögerlichen Waffenlieferungen aus Deutschland fest. Gerade aufgrund der Fehler in der deutschen Russland-Politik der Vergangenheit trägt Deutschland eine besondere Verantwortung. Polen und die Baltischen Staaten haben uns seit Jahren gewarnt, aber wir haben nicht ausreichend gehört. Sie warnen uns immer noch. Lassen Sie diese Warnungen nicht vergeblich sein!

Nicht nur die Ukraine ist bedroht, auch die europäische und deutsche Sicherheit wären nach einem Sieg Russlands gefährdet. Die Unterstützung der Ukraine mit Waffen ist daher im ureigensten Interesse Deutschlands.

Als Initiative, die sich gegründet hat, um sich dafür einzusetzen, dass Deutschland die Ukraine mit allen seinen Möglichkeiten unterstützt, fordern wir Sie auf:

Beliefern Sie die Ukraine so schnell wie möglich ausreichend mit Waffensystemen, insbesondere mit den Taurus-Marschflugkörpern!

Uns läuft die Zeit davon! Halten Sie die Ukraine nicht monatelang hin!

Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen!

Mit freundlichen Grüßen

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24.11.2023
Erklärung der Initiative ZEITENWENDE MARBURG zur Eskalation im Nahen Osten 

  1. Der Überfall der Hamas auf Israel mit mehr als 1200 bestialisch ermordeten Israelis und 240 in die Geiselhaft Entführten war ein Akt der Barbarei, die schlimmste Terroraktion gegen das israelische Volk seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Er ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Hamas erkennt das Existenzrecht Israels nicht an. Ihr Ziel ist die Vernichtung Israels und die Errichtung eines palästinensischen Staates in ganz Palästina. Sie hält ihr eigenes Volk im Gazastreifen in Geiselhaft und ist weder eine Befreiungsbewegung noch Teil eines Kampfes gegen Kolonialismus oder Rassismus, sondern eine Terrororganisation.
     
  2. Israel hat unbestritten das Recht, sich gegen Terrorakte zur Wehr zu setzen und seine Bevölkerung vor einer Wiederkehr solcher Attacken zu schützen. Das Ziel einer Zerschlagung der Hamas-Strukturen und die dazu notwendigen Militäraktionen Israels sind deshalb legitim und durch das Völkerrecht gedeckt. Dabei das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten, gehört allerdings auch zum Völkerrecht. Israel ist der einzige Staat in dieser Region, der eine demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung hat. Wir erwarten von der Führung dieses Staates, dass sie die Normen des Völkerrechts einhält und das Menschenmögliche unternimmt, um das Leben der Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen. Dazu gehören auch Fluchtkorridore, Feuerpausen und die Zulassung humanitärer Hilfslieferungen. Es ist davon auszugehen, dass es das taktische Kalkül der Hamas ist, durch die beispiellose Brutalität ihres Angriffs eine Eskalation zu provozieren. 
     
  3. Unsere Anteilnahme und unser Mitgefühl gilt allen Opfern und ihren Angehörigen. Sie gilt den Toten und Verletzten auf israelischer wie auf palästinensischer Seite. Und sie gilt den Geiseln. Soweit die Militäraktionen den Tod von unbeteiligten Zivilisten verursachen, hat diese Opfer zuerst die Hamas zu verantworten. Im Unterschied zum Terror der Hamas ist die israelische Militäraktion nicht darauf aus, möglichst viele zivile Opfer zu fordern. Dieser Unterschied darf bei den Bewertungen des Geschehens in Gaza nicht aus dem Auge verloren werden. Wir wenden uns deshalb gegen eine Täter- Opfer-Umkehrung, wie sie in Teilen der Öffentlichkeit verbreitet ist. Wir haben aber auch zunehmend Zweifel, ob die seit einem halben Jahr andauernden israelischen Militäraktionen in Gaza noch durch das Selbstverteidigungsrecht Israels gerechtfertigt sind. Die humanitäre Lage dort ist schrecklich und erfordert dringend stärkere internationale Hilfe.
     
  4. Auch wenn die Zerschlagung der Hamas gelingen sollte, ist damit noch keine Lösung erreicht, die den Weg für eine friedliche Zukunft der Region weisen kann. Auch wenn sie derzeit weiter entfernt scheint denn je, sind wir der Auffassung, dass längerfristig eine Zwei-Staaten-Lösung die Voraussetzungen für eine dauerhafte Friedenslösung schaffen kann. Das wird mit den religiösen Fanatikern der Hamas kaum möglich sein. Zu einer solchen Lösung gehört freilich auch die Bereitschaft der israelischen Seite zur Aussöhnung und zum Kompromiss. Eine solche Bereitschaft ist bisher von Seiten der Regierung Netanjahu nicht zu erkennen. Zunehmend ist die Siedlungspolitik Israels im Westjordanland ein Hindernis für eine Verhandlungslösung gewesen. Wir hoffen, dass auch ein durch Terroranschläge traumatisiertes Land die Kraft findet, zu einer solchen Lösung beizutragen.
     
  5. Wir sind entsetzt über die vielen Zeichen eines alten und neuen Antisemitismus, die derzeit in vielen westlichen Ländern zu beobachten sind. Leider auch in Deutschland. Wir sind bestürzt über die Folgen von antisemitischen und islamistischen Feindbildern, die zum Teil aus der islamischen Welt importiert sind. Sie zeigen massive Versäumnisse bei der Integration von Zuwanderern und bei der Kontrolle von Organisationen, die von Staaten der islamischen Welt gesteuert und finanziert werden. Ebenso bestürzend finden wir die an vielen Universitäten des Westens, bei Intellektuellen und Kulturschaffenden verbreitete Haltung des „ja, aber“, die häufig in einen latenten oder gar offenen Antisemitismus mündet.
     
  6. Wir finden es schrecklich, wenn jüdische Mitbürger in diesen Tagen angegriffen werden, sich bedroht fühlen, ihre kulturellen Symbole attackiert werden, aber auch mangelnde Empathie und Wärme beklagen müssen. Für das Land, in dem unsere Vorfahren die schlimmsten Verbrechen in der langen Geschichte der Judenverfolgung überhaupt begangen haben, ist dies besonders erschreckend. Deshalb rufen wir alle Marburgerinnen und Marburger auf, jeglichen Zeichen von Judenhass und Antisemitismus entschieden entgegenzutreten.

Marburg, 24.11.2023

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07.11.2023
Hubert Kleinert

Ein Versuch, mir und anderen den Nahostkonflikt zu erklären 

Wenn man die Wurzel des Nahostkonflikts erklären will, muss man nicht unbedingt bis zu Moses und die israelitischen Reiche von David und Salomon zurückgehen. Wohl aber in die Zeit der römischen Herrschaft in Palästina. Denn die Niederschlagung des jüdischen Aufstands in den Jahren 66-73 n.Chr. und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem lieferte den Anlass für den Exodus der Juden aus ihrem „gelobten Land“. Tausende von Juden sollen damals entlang der Straßen von Jerusalem gekreuzigt worden sein. Damit begann die Zeit der jüdischen Diaspora. 

Ein halbes Jahrhundert später wurden nach dem sog. „Bar-Kochbar“-Aufstand erneut Tausende getötet oder als Sklaven verkauft. Das biblische Judäa wurde von den Römern in Syria Palestina umbenannt, um jede Erinnerung an jüdische Königreiche zu tilgen. 

Nach dem Übertritt von Kaiser Konstantin zum Christentum begann im 4. Jhd. die Christianisierung der Region. Dann kamen die Muslime. 638 wurde Jerusalem von der Armee des zweiten Kalifen erobert. 691 errichteten die Muslime den Felsendom auf dem Tempelberg. Im Laufe des 8. Jhd. war die Mehrheit der ansässigen Bevölkerung zum Islam konvertiert. Das bis dahin gesprochene Griechisch wurde vom Arabischen verdrängt. 

Mit den Kreuzzügen entstanden ab Ende des 11. Jhd. christliche Kreuzfahrerstaaten. Darunter war das Königreich Jerusalem. Der Felsendom wurde jetzt zu einem christlichen Heiligtum umgewandelt. 1187 besiegte Saladin ein Kreuzfahrerheer und besetzte Jerusalem. Kirchen und Tempel wurden in  Moscheen umgewandelt. Die Kreuzritter mussten sich ins nördliche Palästina zurückziehen. 1291 ging der letzte christliche Stützpunkt verloren. 

Die jetzt regierenden Mamelucken wurden 1516 von den Osmanen besiegt. Für die folgenden 400 Jahre wurde Palästina wir Ägypten und Syrien Teil des osmanischen Reiches. Dabei wurden den wenigen verbliebenen christlichen und jüdischen Gemeinden gewisse Autonomierechte zugebilligt. 

Palästina war bis in die Neuzeit hinein nur sehr dünn besiedelt. Anfang des 19. Jhd. lebten hier etwa 300.000 Menschen. Darunter waren 90% muslimische Araber, 20-30.000 Christen und 7-10.000 Juden. Vor dem Beginn der jüdischen Einwanderung gab es 1881 knapp 500.000 Einwohner, darunter über 400.000 Muslime, aber nur etwa 10-15.000 Juden und 70-80.000 Christen. 

In den 1880er Jahren begann der französische Baron Rothschild, sich für den aufkommenden Zionismus (vgl. unten) einzusetzen. Er erwarb Grundstücke in Palästina und übergab 1889 25.000 Hektar palästinensischen Agrarlands samt der darauf befindlichen Ansiedlungen an die inzwischen entstandene „Jewish Colonisation Association“. 

1. Die Juden in Europa 

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18.04.2023

Unser Sprecher Hubert Kleinert hat ein längeres Papier verfasst, in dem er der Frage nachgeht, was wir aus den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts für heute lernen können. 

Bedingungen für einen Frieden in der Ukraine und die Geschichte kriegerischer Konflikte im 20. Jahrhundert – Überlegungen ins Unreine

Unsere Diskussionen der letzten beiden Sitzungen haben mich dazu veranlasst, einige nähere Betrachtungen über die Möglichkeiten für einen Frieden oder zumindest einen Waffenstillstand in der Ukraine anzustellen. Ich versuche dabei, durch das Heranziehen historischer Beispiele Kriterien zu entwickeln, wie ein Ende der Kampfhandlungen denkbar erscheinen könnte. Ausgangspunkt ist dabei, dass moralische, völkerrechtliche und machtpolitische Gesichtspunkte gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. Ausgangspunkt ist ferner, dass es sich beim Krieg in der Ukraine um einen nicht provozierten Angriffskrieg der russischen Seite handelt, der darauf angelegt ist, den territorialen Status Quo zugunsten der russischen Seite zu verändern, der die staatliche Integrität und Souveränität der Ukraine in Frage stellt und der insoweit in die Tradition imperialistischer Eroberungskriege eingerückt werden muss. Deshalb sind Vergleiche mit den Jugoslawienkriegen nach 1991, wie sie im Zusammenhang mit Konfliktlösungen von Ischinger angestellt worden sind, nur von begrenztem Wert. Ich werde mich deshalb nachfolgend darauf beschränken, fünf Kriege bzw. ihre Beendigung in die Betrachtung einzubeziehen: 1. Den ersten Weltkrieg. 2. Den zweiten Weltkrieg. 3. Den Koreakrieg Anfang der 1950er Jahre. 4. Den Vietnamkrieg und den Krieg der Sowjetunion in Afghanistan. 5. Den Irakkrieg 1990/91. 

Es versteht sich, dass historische Analogien immer problematisch sind. Irgendwas ist immer irgendwie anders. Und die nachfolgenden Seiten werden auch zeigen, dass es fast unmöglich ist, aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts wirklich eindeutige Schlüsse im Blick auf die Realität von heute zu ziehen. Dennoch macht es Sinn, in der Geschichte nach Parallelen und in den realgeschichtlichen Abläufen danach zu suchen, inwieweit sie geeignet sind, bei der Beurteilung heutiger Sachverhalte hilfreich zu sein. Mich jedenfalls hat der Ausflug in die Geschichte des Kriegsgeschehens im 20. Jahrhundert angeregt. Ich stelle deshalb das Nachfolgende gerne zur Verfügung.  

  1. Der erste Weltkrieg

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24.02.2023

Den Online-Stream des OP-Talks ( Oberhessische Presse - 5 Teile) mit unserem Sprecher der Initiative ZEITENWENDE MARBURG Hubert Kleinert und dem Vertreter des Bündnisses "Nein zum Krieg"  Pit Metz, moderiert von den OP-Redakteuren Björn Wisker und Stefan Dietrich können Sie hier abrufen: 

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

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28.10.2022

Hubert Kleinert

Überlegungen zur Geschichte der deutschen Ostpolitik seit den 1960er Jahren

Die nachfolgenden Überlegungen sind entstanden aus der Auseinandersetzung mit Thomas Urbans Buch „Verstellter Blick – Die Deutsche Ostpolitik“. Ich nehme seine überaus kritischen Einschätzungen zu den Wirkungen der Entspannungspolitik seit den Tagen Willy Brandts nicht nur zum Anlass für eine historische Nachbetrachtung. Zugleich möchte ich auch zeigen, dass die offenkundigen Fehler der deutschen Russland-Politik vor allem nach 2014 nicht einfach einer Kontinuität von Illusionen und Fehleinschätzungen zu verdanken sind, deren Anfang bis in die 1960er Jahre zurückreichte. Ich gehe vielmehr davon aus, dass die Bedingungen für eine Politik gegenüber der Sowjetunion in der Zeit des Kalten Krieges ganz andere waren als diejenigen, die sich nach 1990 und besonders nach 2014 gegenüber Russland stellten. Die These einer „Kontinuität des Illusionismus“, die sich bei der Lektüre von Urbans Schrift trotz einzelner anerkennender Bemerkungen über Brandt geradezu aufdrängt, wird m.E. der historischen Wirklichkeit nicht gerecht. Das mindert nicht den Wert seiner Kapitel zur polnischen Innenpolitik oder zu „Juden und Antisemiten“. Hier aber geht es allein um die deutsche Ostpolitik vor und nach 1990. 

1. Wandel durch Annäherung

Die Geschichte der neuen (west)deutschen Ostpolitik beginnt mit einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing im Juli 1963. Bei dieser Tagung sprach der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, von der Notwendigkeit eines neuen Verhältnisses zwischen Ost und West. Tags darauf kleidete Brandts engster Mitarbeiter Egon Bahr diesen Neuansatz in die Formel „Wandel durch Annäherung“. Wenn es richtig sei, dass zunehmende Spannung „Ulbricht und die Zone“ stärke, gelte umgekehrt, dass nur Entspannung eine Chance zum friedlichen Wandel im Osten schaffen könne. Dazu müsse man dem Stabilisierungsbedürfnis der anderen Seite zunächst ein Stück entgegenkommen. Damit die Auflockerung von Mauer und Grenze möglich werde, müsse das Risiko für die Gegenseite „erträglich“ sein. 

Hintergrund für diese neuen konzeptionellen Überlegungen Berliner Sozialdemokraten bildeten der Mauerbau 1961 und die nach der Kuba-Krise 1962 wachsenden Entspannungssignale in Washington. Der Mauerbau hatte gezeigt, dass eine Politik der Stärke gegenüber der DDR die Zementierung der deutschen Spaltung wie der staatssozialistischen Diktatur nicht hatte verhindern können. Ein Neuansatz musste her, wollte man etwas in Bewegung bringen. Gleichzeitig nahm die Neigung der westlichen Bündnispartner ab, Fortschritte in den Ost-West-Beziehungen immer wieder durch die harte Haltung der Westdeutschen und ihrem Beharren auf Rechtsansprüche blockiert zu sehen. 

In der Bundesrepublik löste Bahrs Rede zunächst vor allem Kritik aus. Die Unionsparteien waren entsetzt. Noch galt die Hallstein-Doktrin mit dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung, einzig legitime Vertretung aller Deutschen zu sein. Das Zeigen von DDR-Symbolen in der Bundesrepublik blieb eine Straftat, gegen die auch polizeilich eingeschritten wurde. Als der Westberliner Senat zu Weihnachten 1963 ein Passierscheinabkommen mit der DDR aushandeln wollte, um Verwandtenbesuche über die Feiertage zu ermöglichen, war Bonn zunächst dagegen, weil das ja Kontakte zu DDR-Behörden bedeuten musste. 

Doch bald erfuhren Brandt und Bahr publizistische Unterstützung durch die Hamburger Magazine SPIEGEL, STERN und ZEIT. Das half. Dazu kam der ost-und deutschlandpolitische Schwenk der FDP, der bei der Annäherung zwischen SPD und FDP in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine entscheidende Rolle spielte. Und 1965 warb eine Denkschrift der EKD bei den Deutschen dafür, sich mit dem Verlust der deutschen Ostgebiete abzufinden. 

Zwar gelang es der SPD in der Großen Koalition, die ab Dezember 1966 das Land regierte, nicht, neue Weichenstellungen in der Ostpolitik durchzusetzen. Die Union hing in den alten Konstellationen und Rechtsansprüchen fest. So war es dann erst der Wahlsieg der Sozialliberalen im September 1969, der die Voraussetzungen für einen politischen Durchbruch schuf.

... hier der Link zum vollständigen Text

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15.08.2022
Nachruf auf Uli Hogh-Janovsky
von Hubert Kleinert (Sprecher der Initiative)

Ende Juli ist unser Mitstreiter Uli Hogh-Janovsky völlig überraschend gestorben. Bei einer Radtour in den italienischen Alpen hat sein Herz versagt. Trotz erfolgreicher Reanimation konnte im Krankenhaus von Bergamo nur sein Hirntod festgestellt werden. Er wurde nur 67 Jahre alt. Viele von Euch haben Uli nicht erst seit der „Zeitenwende“ gekannt. Seit Jahrzehnten war er Dreh- und Angelpunkt im Buchladen Roter Stern. Und nicht nur den Büchern und der Politik gehörte seine Leidenschaft. Auch dem Radfahren, dem Fußball und dem Wein. 

Ich habe Uli seit dem Herbst 1975 gekannt. Wir haben mit anderen die Marburger Spontis gegründet und saßen über die Liste „Spontifex Maximus“ nach 1977 zusammen im Studentenparlament der Philipps-Universität. Später war der Kontakt mal ferner und mal näher. Aber auch in dieser Zeit haben wir uns immer wieder einmal getroffen und gesprochen – ob über Politik oder über Fußball. In den letzten Jahren ist der Kontakt wieder intensiver geworden. Uli hat im letzten Herbst die Veranstaltung organisiert, bei der ich mit Jürgen Falter über mein letztes Buch diskutiert habe. Und in der Ukraine-Frage war Uli vollkommen eindeutig. 

Ich habe Uli sehr gemocht. Er war ein offener, lebendiger und zugewandter Mensch – das glatte Gegenteil eines Polit-Dogmatikers. Er wird nicht nur seiner Frau, seiner Familie, dem Roten Stern und seinen Fahrrad- und Fußballfreunden sehr fehlen. Auch in unserer Runde hinterlässt er eine Lücke. 

Die Trauerfeier findet am Samstag, d. 10.9., um 11 Uhr in der Kapelle des Friedhofs Am Rotenberg statt. 

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28.07.2022

Hubert Kleinert

Der Ukrainekrieg, Russland und die NATO

In Marburg ist ein „Narrativ“ erstaunlich weit verbreitet und das geht ungefähr so: Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist nicht richtig und zu verurteilen. Aber wenn man die Vorgeschichte dieses Krieges einbezieht, dann sind es doch eher die USA und die NATO, die die Verantwortung dafür trifft, dass es so weit gekommen ist. Denn sie haben Putin soweit „provoziert“ und in eine „strategische Defensive“ (Krone-Schmalz) gedrängt, dass der russische Diktator nun so reagiert hat. Dieses Muster taucht in verschiedenen Variationen auf. Nicht alle sind so simpel wie die jenes Herrn, mit dem ich neulich allzu laut aneinandergeriet, dass nämlich Putin in seinem „Hinterhof“ nur dasselbe praktiziere wie es Amerika im Falle Kuba getan habe. Andere stellen auf Putins Angebote ab, die vom Westen angeblich zurückgewiesen worden seien. Wieder andere verweisen darauf, dass die Ukraine von den USA „gekauft“ und maßlos „aufgerüstet“ worden sei. Vor allem aber geht es immer wieder um die NATO-Osterweiterung. Mit ihr habe das Unheil angefangen. Mit dem Beitritt vor allem der Polen und Balten hätten sich die historischen Ressentiments dieser Länder gegenüber Russland in die NATO „hineingefressen“ (Krone-Schmalz). Dies habe dann zu einer Radikalisierung der Politik des Westens gegenüber Russland geführt. 

Nur am Rande sei erwähnt, dass man mit dieser Logik Russland und Frankreich die Schuld am ersten Weltkrieg geben könnte. Schließlich haben sie mit ihrem Militärbündnis in Deutschland Einkreisungsängste provoziert, die im deutschen Generalstab schon vor 1914 Forderungen nach einem Präventivkrieg gegen Frankreich laut werden ließen. Und ganz schräg sind die Vergleiche zur gescheiterten Invasion in der kubanischen Schweinebucht 1961. Kennedy selbst hat seine Unterstützung für diese Militäroperation später als Fehler bezeichnet. Und in den gut sechzig Jahren, die seither vergangen sind, hat niemand in den USA mehr die territoriale Integrität Kubas in Frage gestellt. 

Das aber soll nachfolgend nicht weiter interessieren. Denn selbstverständlich ist es auch im Angesicht der russischen Aggression legitim und sogar notwendig, die Frage nach möglichen eigenen Fehlern des Westens aufzuwerfen. Wie war es denn seinerzeit wirklich? Wie und warum kam es zur Osterweiterung der NATO? Und wie hat sich die Politik des Westens gegenüber Russland entwickelt?

Mit dem Zusammenbruch der Ostblocksysteme und dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 war zunächst eine historisch völlig offene Situation entstanden. Weil der Kalte Krieg die NATO 1949 erst hervorgebracht hatte, stellte sich mit seinem Ende die Frage, ob und wozu das westliche Verteidigungsbündnis künftig überhaupt noch gebraucht werden würde. Folgerichtig tauchten jetzt alle möglichen Ideen für eine künftige Sicherheitsstruktur auf. Eine davon war die Idee, die NATO in gemeinsame Sicherheitsstrukturen im Rahmen der KSZE bzw. OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit) unter Einschluss der Sowjetunion zu integrieren. Eine andere Idee war, der Sowjetunion eine NATO-Mitgliedschaft anzubieten. 

Bereits im Juli 1990 schlugen die NATO-Staaten auf ihrem Gipfel in London vor, in einer gemeinsamen Erklärung mit den Staaten des Warschauer Pakts feierlich zu erklären, dass sie sich nicht mehr länger als Gegner betrachten und künftig auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt verzichten würden. Zu dieser Erklärung kam es dann nicht mehr, weil sich der Warschauer Pakt zum 1.7.1991 selbst auflöste. Wenige Monate später gab es die Sowjetunion nicht mehr. Der Putschversuch im August 1991 hatte Gorbatschows ohnehin bereits angeschlagene Position entscheidend geschwächt und zugleich die Position des russischen Präsidenten Boris Jelzin erheblich gestärkt. Mit dem Treffen der Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine Anfang Dezember waren die Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag gescheitert.

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20.06.2022

Briefwechsel zwischen Herrn Hubert Kleinert (Sprecher der Initiative) und dem Oberbürgermeister der Stadt Marburg Herrn Thomas Spies anlässlich der Vortragsveranstaltung mit Gabriele Krone-Schmalz am 4. Juli 2022 in Marburg mit dem Thema „Frieden mit Russland“ (Veranstalter: Bündnis „Nein zum Krieg“, DGB Marburg-Biedenkopf). 

Dazu verweisen wir ausdrücklich auf einen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 10. Juli 2022, Seite 6, in dem sich Oliver Georgi mit dieser Veranstaltung, ihrer Vorgeschichte und ihrem Verlauf auseinandersetzt.

_1.
Das nachfolgende Schreiben des Sprechers der Initiative Hubert Kleinert wurde am Montag, den 20.06.2022 an Oberbürgermeister Thomas Spies und den Magistrat der Stadt Marburg geschickt [siehe zu_1.]

_2.
Das Antwortschreiben des Oberbürgermeisters Thomas Spies vom 27. Juni 2022 finden Sie am Ende des Briefs von Hubert Kleinert [siehe zu_2.]

_3.
Das Antwortschreiben des Sprechers der Initiative Hubert Kleinert auf den Brief von Oberbürgermeister Thomas Spies wurde am Freitag, den 01.07.2022 an Oberbürgermeister Thomas Spies, Bürgermeisterin Nadine Bernshausen und zur Kenntnis an die Mitglieder des Magistrats der Stadt Marburg geschickt 
[siehe  zu_3.]
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zu _1.

Initiative ZEITENWENDE MARBURG

Prof. Dr. Hubert Kleinert | Steinacker 14 | 35043 Marburg

An den 
Magistrat der 
Stadt Marburg 

Herrn Oberbürgermeister 
Dr. Thomas Spies 
Marburg 
oberbuergermeister@marburg-stadt.de 

Nachrichtlich: 
Frau Bürgermeisterin 
Nadine Bernshausen 
Marburg 
buergermeisterin@marburg-stadt.de 

Zur Kenntnis an die Magistratsmitglieder: 

Frau Stadträtin Kirsten Dinnebier 
Herrn Stadtrat Christoph Ditschler 
Frau Stadträtin Lea Doobe 
Frau Stadträtin Alev Lassmann 
Herrn Stadtrat Henning Köster-Sollwedel 
Frau Stadträtin Anne Oppermann 
Herrn Stadtrat Hans-Werner Seitz 
Frau Stadträtin Marina Siffermann-Gorr 
Herrn Stadtrat Ulrich Severin 
Herrn Stadtrat Roland Stürmer 
Frau Stadträtin Marianne Wölk 
Frau Stadträtin Sevim Yüzgülen 

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, 
lieber Thomas Spies, 

im Mai dieses Jahres hat sich in Marburg eine „Initiative Zeitenwende“ gegründet. Die Oberhessische Presse hat über die Gründung breit berichtet (0P vom 20.5.). Ich nehme an, dass Dir das nicht entgangen ist. Die Initiative setzt sich für eine umfassende Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Putins Aggressionskrieg ein – auch mit militärischen Mitteln. Die Initiative verfolgt darüber hinaus auch das Ziel, die vielen anderen Fragen zu behandeln, die sich als Konsequenz des Krieges neu stellen – von der Sicherheit der Energieversorgung über die Folgen für die Ernährung der Weltbevölkerung bis zur Zukunft unserer Wirtschaftsbeziehungen zu einer autokratischen Macht wie China. Wir glauben, dass es für den Umgang mit den so gravierenden Veränderungen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, auch eines breiten zivilgesellschaftlichen Dialogs bedarf. Dazu wollen wir beitragen. Ich habe die Rolle des Sprechers übernommen. In dieser Eigenschaft übersende ich Dir diesen Brief. Den vollständigen Text unserer Gründungserklärung findest Du unter www.zeitenwende-marburg.de

 

Uns ist bekannt geworden, dass die Stadt Marburg an der Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung mit der Publizistin und früheren Fernsehjournalistin Gabriele Krone-Schmalz beteiligt ist. Jedenfalls werben die Veranstalter, ein „Bündnis gegen den Krieg“ und der DGB Marburg, mit dem Signum „Unterstützt von der Stadt Marburg“ und geben der Veranstaltung damit einen gleichsam „offiziösen“ Anstrich. Auch in den Räumlichkeiten der Stadt (z.B. in der VHS) wird mit Plakaten für die Vortragsveranstaltung, die am 4.7. stattfinden soll, geworben.

 

Wir haben uns, offen gesagt, über diese Art der offiziellen oder zumindest „offiziösen“ Unterstützung dieser Veranstaltung sehr gewundert. Frau Krone-Schmalz ist in ihrem publizistischen Wirken vor allem seit der Krim-Annexion durch Russland 2014 immer wieder mit Büchern, Interviews und Talkshow-Auftritten hervorgetreten, in denen sie vehement für Verständnis für Putin und die russische Politik gegenüber der Ukraine geworben und die Eskalation der Spannungen zwischen Russland und dem Westen vor allem als Folge einer verfehlten Politik des Westens analysiert hat. Dies hat ihr in der vereinfachten und überspitzten Medien-Terminologie das Etikett einer der prominentesten „Putin-Versteherin“ in Deutschland eingetragen. Noch am Abend des 23.2., als der russische Angriff unmittelbar bevorstand, mochte sie in der Sendung bei „Markus Lanz“ nicht erkennen, dass Putin das Existenzrecht der Ukraine in Frage gestellt habe. Sie stieß damit auf die einhellige Empörung der übrigen Diskussionsteilnehmer. Der Beck-Verlag, der einige ihrer Bücher verlegt hat, hat Anfang März entschieden, ihre Bücher nicht mehr zu drucken, da die Autorin sich „offensichtlich geirrt“ habe. Der DDR-Historiker Ilka-Sascha Kowalczuk hat damals geschrieben, Frau Krone-Schmalz habe entscheidend dazu beigetragen, „dass in Deutschland bis heute Verwirrung herrscht bei der Einschätzung des diktatorischen Regimes von Wladimir Putin und der Geschichte und Gegenwart der Ukraine“.

 

Nun ist das Werben um Verständnis für Putin und für russische Bedrohungsängste natürlich das gute Recht von Frau Krone-Schmalz. Im Unterschied zu Russland, wo schon die Verwendung des Wortes „Krieg“ im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine strafbar ist, gilt in Deutschland das Recht auf freie Meinungsäußerung. Niemand von uns will Frau Krone-Schmalz daran hindern, ihre Auffassungen öffentlich zu vertreten. Handelte es sich bei dem in Marburg geplanten Auftritt allein um eine Veranstaltung des „Bündnis gegen den Krieg“ oder des DGB – es gäbe für ein solches Schreiben keine Veranlassung. Der Zusatz „unterstützt von der Stadt Marburg“ aber gibt dieser Veranstaltung einen Charakter, der den Eindruck erwecken kann, die Stadt Marburg bzw. ihre gewählten Repräsentanten hielten die Auffassungen und Sichtweisen von Frau Krone-Schmalz für besonders förderungs- oder empfehlungswürdig. Das aber kann nicht angehen. Zumal es sich ja nicht um eine Podiums- oder Diskussionsveranstaltung handelt, bei der auch Vertreter oder Vertreterinnen einer Gegenmeinung zu Wort kämen. 


Weil das so eigentlich nicht gehen kann, möchte ich mir die folgenden Nachfragen erlauben: 

  1. Wann hat die Stadt entschieden, bei dieser Veranstaltung offiziell als „Unterstützer“ aufzutreten?
  2. Wer hat diese Entscheidung getroffen?
  3. War den Entscheidern und ggfls. Entscheiderinnen die umstrittene öffentliche Rolle von Frau Krone-Schmalz damals bekannt?
  4. Ist diese Entscheidung bereits vor oder erst nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gefallen?
  5. Für den Fall, dass diese Entscheidung schon vor dem Beginn des Krieges gefallen ist: Warum ist nach Kriegsbeginn nicht noch einmal überprüft worden, ob unter diesen Umständen an der Unterstützung durch die Stadt festgehalten werden kann?
  6. War und ist der Stadt bekannt, dass der Beck-Verlag im März 2022 entschieden hat, die Bücher von Frau Krone-Schmalz nicht mehr nachzudrucken?  Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, warum hat dann keine neue Überprüfung der städtischen Beteiligung stattgefunden?
  7. Was bedeutet „unterstützt von der Stadt Marburg“? Handelt es sich um eine ideelle Unterstützung, die zu Werbezwecken genutzt werden kann, oder sind damit auch finanzielle Zuwendungen verbunden?
  8. Beabsichtigt der OB, bei dieser Veranstaltung selbst aufzutreten (etwa durch ein Grußwort)?
  9. In welcher Größenordnung bewegen sich die materiellen Zuwendungen der Stadt für die Veranstaltung mit Frau Krone-Schmalz?
  10. Ist die Stadt auch an den Honorarzahlungen für Frau Krone-Schmalz beteiligt und in welchem Umfang ist das der Fall?
  11. Wie sieht der Magistrat als Ganzes die besondere Förderung dieser Veranstaltung heute?

 

Lieber Thomas Spies, wir sind durchaus nicht der Auffassung, dass bei von der Stadt unterstützten oder geförderten Veranstaltungen künftig immer ein strenger Maßstab angelegt werden sollte und pointierte Standpunkte nicht mehr möglich sein sollten, im Gegenteil. Wir sind da für große Liberalität. Aber hier geht es um einen Aggressionskrieg und seine Konsequenzen und da gibt es Grenzen. Und in diesem Fall ist die Einseitigkeit der zu erwartenden Standpunkte derart evident, dass diese Form der Förderung durch die Stadt nicht hingenommen werden kann. Zumal keine Gegenposition vertreten ist, die der ukrainischen Sicht der Dinge näherstünde. Und es ist uns auch nicht bekannt, dass bislang weitere Beteiligungen der Stadt an Veranstaltungen geplant wären, die ein Gegengewicht setzen könnten. 
 

Für ein solches Gegengewicht wollen wir in Zukunft sorgen. Wir planen derzeit unsererseits öffentliche Veranstaltungen. Die erste soll möglichst noch vor der Sommerpause stattfinden. Weitere sind für den Herbst vorgesehen. Wir setzen darauf, dass wir dabei mit einer Kooperation und Unterstützung durch die Stadt rechnen können. 

Für die Initiative Zeitenwende 

Prof. Dr. Hubert Kleinert 

zu_2.

DR. THOMAS SPIES
Oberbürgermeister

Adresse Rathaus, 35037 Marburg
Telefon 06421 201-1201
E-Mail oberbuergermeister@marburg-stadt.de
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Der Oberbürgermeister der Universitätsstadt Marburg w 35035 Marburg

Prof. Dr. Hubert Kleinert
Initiative „Zeitenwende Marburg“
- per Email -

Marburg, den 27. Juni 2022

Sehr geehrter Herr Prof. Kleinert, lieber Hubert 
["lieber Hubert": handschriftlich]

Vielen Dank für Dein Antragsschreiben vom 20. Juni 2022 mit der Bitte, eine Veranstaltung der
Initiative „Zeitenwende Marburg“ zu unterstützen. Ebenso danke ich Dir für Deine Kommentierung
zu Veranstaltungen anderer Initiativen, die sich ebenfalls – wenn auch mit einer anderen
Sichtweise - mit dem uns alle sehr bewegenden Thema des russischen Überfalls auf die Ukraine
befassen. Persönlich halte ich einen offenen Diskurs über den richtigen Weg zur Friedensicherung
in Europa und der Welt für dringend geboten. Das gilt besonders angesichts der Tatsache, dass
das Wunder der KSZE-Schlussakte von Helsinki von 1975 heute offenbar nicht mehr die Kraft
besaß, den Frieden in Europa zu sichern.

Das unfassbare Leid der Menschen in der Ukraine erschüttert uns alle zutiefst und verlangt unsere
uneingeschränkte Solidarität. Wir verurteilen den russischen Überfall auf die Ukraine auf das
Schärfste. Dieser völkerrechtwidrige Angriff, mit dem offenbar von russischer Seite schwere
Verstöße gegen das Recht der Völker, das Kriegsvölkerrecht und gegen Strafgesetze verübt
wurden, kann durch nichts gerechtfertigt werden. Das ist die Überzeugung des Magistrats wie
auch meine persönliche, und sie wurde bei zahlreichen Gelegenheiten, auch auf der vom Magistrat
veranstalteten Mahnwache im Februar, klar und eindeutig öffentlich zum Ausdruck gebracht.
Persönlich begrüße ich die jetzt umgesetzte Unterstützung der Ukraine auch mit Waffen
nachdrücklich. Schon lange bin ich persönlich der Auffassung, dass eines der reichsten und
einflussreichten Länder der Welt sich bei internationalen Konflikten nicht entziehen kann, sondern
in der Not so helfen muss, dass Hilfe nützt – eine Debatte, für die ich gerne bereitstehe.

Allerdings hat meine persönliche Auffassung wenig damit zu tun, ob die Stadt Marburg Beiträge
zu einem Diskurs ermöglicht. Der Magistrat enthält sich gegenüber Vereinen, Institutionen und
freien Trägern jeglicher Zensur, auch wenn er vorgetragene Positionen im konkreten Einzelfall z.
B. einer Veranstaltung nicht oder nicht in allen Punkten teilt. Ich erinnere nur an Stimmen aus dem
politischen Raum, die vor einiger Zeit wegen einer kritischen Veranstaltung zu Polizeieinsätzen in
den Räumen des KFZ eine Kürzung der städtischen Förderung für das KFZ forderten. Natürlich
haben wir dem nicht entsprochen.

Klar ist: so lange nicht gegen Gesetze verstoßen wird oder rassistische, neofaschistische, geschichtsrevisionistische, homo- und transfeindliche, antifeministische oder andere menschenverachtende Positionen vertreten werden, sollte die Stadt offene Diskurse ermöglichen helfen. An dieser Haltung halte ich fest.

Wird - wie hier - eine Initiative auf Antrag finanziell gefördert, so muss diese Förderung immer durch den Hinweis „Unterstützt von der Stadt Marburg“ transparent gemacht werden. Es würde auch für Veranstaltungen von „Zeitenwende Marburg“ gelten. Selbstverständlich kann daraus weder eine inhaltliche Zustimmung zu Aussagen von Referenten noch gar ein irgendwie „offiziöser“ Charakter abgeleitet werden. Wenn man einmal verschiedene Beispiele durchdenkt, dann wird schnell klar, dass dieser Gedanke „offiziös“ zu widersprüchlichen, teilweise absurden Ergebnissen führen müsste: die Förderung eines geistlichen Konzerts, Investitionen in die Synagoge oder das Marburger Ökumene-Gespräch stellen sicher nicht die säkulare und neutrale Haltung der Stadt gegenüber Glaubensinhalten in Frage, um nur ein Beispiel zu nennen.

Konkret kam das Bündnis „Nein zum Krieg“ im Jahr 2021 auf die Stadt zu mit der Bitte, eine Diskussionsveranstaltung zur Friedenssicherung in Europa mit der Journalistin und langjährigen Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz zu unterstützen. Mit dem Bündnis besteht seit Jahren eine gesellschaftlich breit getragene, vertrauensvolle Zusammenarbeit, die auch zu zahlreichen Beschlüssen der Stadtverordnetenversammlung geführt hat. Zudem ist die Stadt Marburg selbst in zahlreichen internationalen Friedenbündnissen organisiert, unterstützt lokale Friedensinitiativen und fördert den herrschaftsfreien Diskurs der Meinungen. Diese Förderung wurde 2021 auch zugesagt. Eine Rückforderung nach dem 24. 2. 2022 - wie von Dir angedacht - wäre wohl einer Zensur nahegekommen. Die Grenzen habe ich oben dargestellt.

Für mich gilt mit Voltaire: man muss eine Einschätzung nicht teilen, man kann sie sogar verdammen, um dennoch darauf zu bestehen, dass sie ausgesprochen werden darf.

Ich begrüße es ausdrücklich, dass mit Deiner Initiative eine weitere Stimme der Marburger Zivilgesellschaft einen Rahmen für die Debatte um angemessene Friedenssicherungsstrategien anbietet. Sehr gerne unterstütze ich daher im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel Veranstaltungen dieser Initiative. Bitte lass uns dazu zeitnah einen konkretisierten Antrag mit Kostenplan etc. zukommen.

Da Du Dein Schreiben offenbar einem größeren Verteiler zugänglich gemacht hast, bitte ich darum, diesem auch meine Antwort weiterzuleiten.

Schon jetzt bedanke ich mich herzlich für Dein Schreiben und Dein Verständnis für die Rolle, die die Stadt hier einnehmen muss. Genauso bedanke ich mich für das Vorhaben, weitere Diskussionsangebote zu schaffen, und freue mich darauf. Bis dahin verbleibe ich

Mit freundlichen Grüßen
[Thomas Spies: handschriftlich]

Dr. Thomas Spies
Oberbürgermeister der Universitätsstadt Marburg

zu_3.

Initiative ZEITENWENDE MARBURG

Prof. Dr. Hubert Kleinert | Steinacker 14 | 35043 Marburg

Herrn Oberbürgermeister 
Dr. Thomas Spies 
Marburg 
Rathaus 

Nachrichtlich: 
Frau Bürgermeisterin 
Nadine Bernshausen 

z.Knt. an die Mitglieder des 
Magistrats der Stadt Marburg 


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Thomas, 

Vielen Dank für Dein Antwortschreiben vom 28.6.2022. Bedanken darf ich mich auch für die klare und eindeutige Position, die Du hier in der Frage der Einschätzung der russischen Aggression und der Notwendigkeit einer umfassenden Unterstützung der Ukraine einschließlich militärischer Hilfe beziehst. Ich bin damit voll inhaltlich einverstanden und darf das auch im Namen der Initiative insgesamt unterstreichen. 

Natürlich freut es mich auch, dass Du in Deinem Schreiben die Bereitschaft der Stadt, unsere Veranstaltungen finanziell zu unterstützen, so deutlich herausstellst. Die erste Veranstaltung zu Putins Geschichtsbild und den Umdeutungen der russischen Geschichte zur Rechtfertigung der Aggression wird ja schon am 13.7. stattfinden. Sandra Laaz hat es übernommen, die entsprechenden Anträge bei der Stadt einzureichen. Weitere Veranstaltungen werden ab September folgen.  

Weniger zufriedenstellend sind aus meiner Sicht Deine Antworten auf die verschiedenen konkreten Fragen ausgefallen, die ich in meinem Schreiben gestellt hatte. Wir wissen zwar jetzt, dass die Finanzierungszusagen für die Veranstaltung mit Frau Krone-Schmalz bereits 2021 gemacht worden sind. Genauere Angaben enthält Dein Schreiben allerdings nicht. Ich finde es schade, dass wir erst der OP von heute entnehmen können, dass insgesamt 1785 Euro geflossen sind. Bei dieser Summe liegt es nahe, dass darin auch die Honorierung für Frau Krone-Schmalz enthalten sein dürfte. Sollte das anders sein, bitte ich um Auskunft. 

Du sagst, eine Überprüfung der Finanzierungszusagen der Stadt im Lichte der Ereignisse seit dem 24. Februar wäre einer Art „Zensur“ nahegekommen. Ich kann dem in dieser Form nicht folgen. Ich habe durchaus Verständnis für die Schwierigkeiten, die so etwas aufwirft. Aber die Entfesselung eines Angriffskrieges ist ein derart singulärer und außergewöhnlicher Vorgang, dass es schon erstaunlich ist, dass offenbar niemand unter den Verantwortlichen die Frage aufgeworfen hat, ob der Zusatz „unterstützt durch die Stadt Marburg“ bei dieser Veranstaltung und dieser Referentin noch in die politische Landschaft passt. Erst recht nach dem in meinem Schreiben erwähnten Fernsehauftritt der Referentin und der zitierten Entscheidung des Beck-Verlages. 

Du verwahrst Dich in Deinem Schreiben gegen den Vorhalt, der Zusatz „unterstützt durch die Stadt Marburg“ könne den Eindruck irgendeiner besonderen Empfehlung der Veranstaltung durch die Stadt oder gar einer Unterstützung der inhaltlichen Ausrichtung der Veranstaltung aufkommen lassen. Du stellst dann einen Vergleich mit der Unterstützung einer Veranstaltung an, in der geistliche Musik geboten wird. Aus der Förderung einer solchen Aufführung könne ja auch nicht darauf geschlossen werden, dass die Stadt ihren säkularen Charakter und das Gebot der weltanschaulichen Neutralität in Frage stelle. 

Lieber Thomas, diese vermeintliche Analogie vergleicht aus meiner Sicht Äpfel mit Birnen. Niemand kommt auf die Idee, in der Unterstützung einer solchen Kulturveranstaltung etwas Anderes zu sehen als einen Beitrag zur allgemeinen Kulturförderung. Natürlich ist das keine Parteinahme für das Christentum, ganz abgesehen davon, dass es sicher auch Atheisten gibt, die Kirchenmusik mögen. Eine politische Veranstaltung zu einem derart brisanten und aktuellen Thema aber ist etwas Anderes und erfordert ein besonderes Maß an Sensibilität. Was in 99 von 100 Fällen unproblematisch sein kann, ist es an dieser Stelle eben leider nicht. 

Ich würde mich freuen, wenn sich auch die jetzt noch offenen Fragen zeitnah klären ließen. 

Ansonsten darf ich abschließend betonen, dass auch wir uns auf die gute Zusammenarbeit mit der Stadt im Rahmen der von uns geplanten Veranstaltungen freuen. Es geht in der Tat um den besten Weg zum Frieden. 

Mit den besten Grüßen 

Prof. Dr. Hubert Kleinert

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